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Wie Tilly Edinger forschte und zu ihren Erkenntnissen kam
Als Paläontologin beschäftigte sich Tilly Edinger mit Gehirnen von Lebewesen längst vergangener Erdzeitalter, mit ihrer Entwicklung und Veränderung. Für ihre Forschungen hatte sie hauptsächlich Fossilien zur Verfügung. Deshalb musste sie etwas eigentlich Unmögliches schaffen: Sie wollte Gehirne, also Weichteile, untersuchen, die längst verwest sind. „Das habe ich so nebenbei entdeckt, (...): Verschiedene Leute haben mir ganz besonders interessante Fossilien beschrieben, die eben nicht Hartteile waren, nämlich Ausgüsse von fossilen Schädeln. In dem Schädel (...) da hat sich die Form des vor Urzeiten verwesten Gehirns erhalten.”
Dies hatte schon der Wissenschaftler Georges Cuvier mehr als 100 Jahre vorher erkannt. Aber erst durch Tilly Edinger bekam die Erkenntnis einen besonderen Wert für die Evolutions-Lehre. Denn ihre Forschungsmethode bestand darin, viele solcher Ausgüsse sehr genau zu untersuchen und miteinander zu vergleichen.
Die Gehirnausgüsse, die Edinger benutzte, waren zum Teil auf natürliche Weise entstanden, wenn der Schädel eines Tieres in bewegtem Wasser gelegen hatte. Durch Öffnungen, wie die Augenhöhlen, konnten sich unterschiedliche Stoffe ablagern und den Schädel ausfüllen. Enthielt das Wasser viel Kalk, versteinerten die Ablagerungen und bildeten den Innenraum der Schädelhöhle beziehungsweise die äußere Form des Gehirns ganz exakt ab, manchmal war sogar der Verlauf von Blutgefäßen zu erkennen. Das Gehirn des Sauriers Nothosaurus, über den sie ihre Doktorarbeit schrieb, war ein solcher Ausguss.
Um etwas über die Entwicklung, Fähigkeiten und vielleicht sogar die längst vergangenen Lebensräume der von ihr untersuchten Wirbeltiere sagen zu können, brauchte Tilly Edinger mehr Gehirn-Ausgüsse als diese natürlichen. Deshalb machte sie Folgendes: Sie goss vorhandene (fossile) Schädel mit flüssigem Gips aus. War er hart, konnte er aus der Schädelhöhle genommen werden. Form und Oberfläche des Gehirns zeichneten sich auch hier genau ab.
Damit hatte sie genug Material, um ihre Untersuchungen wissenschaftlich sicher beurteilen zu können. Sie verglich entweder verschiedene Tierarten oder sie erforschte die Gehirne einer Tierart aus verschiedenen Zeitaltern. Je nachdem, welche Bereiche und Hirnwindungen ausgebildet waren, konnte Edinger Rückschlüsse auf die Entwicklungsstufe und Fähigkeiten der Tiere ziehen. Beispielsweise entdeckte sie am fossilen Gehirn einer Fledermaus zwei Ausstülpungen, die es auch noch bei heute lebenden Fledermäusen gibt. Sie ermöglichen die Orientierung im Dunkeln durch das sogenannte Ultraschall-Echo. Daraus konnte sie schließen, dass auch bei den „alten“ Fledermäusen die Orientierung durch das Echo – ihrer für Menschen nicht hörbaren Schreie – ausgebildet war.
Als Tilly Edinger in den USA lebte, begann sie mit ihrer größten wissenschaftlichen Arbeit, mit der Untersuchung von Pferdegehirnen. Da sich die Entwicklung des Pferdes hauptsächlich in Amerika abgespielt hatte, konnte sie in Museen und Forschungs-Instituten große Sammlungen erforschen. „Ich habe von überall in Amerika fossile Pferdegehirne verfolgt von vor 55 Millionen Jahren bis heute. Da hat sich ungeheuer viel geändert.“ Sie hat als Erste herausgefunden, wie sich diese Veränderung abgespielt hat. Sie kam zu der bahnbrechenden Erkenntnis, dass die Hirngröße nicht gemeinsam mit der Körpergröße zunahm. Das hatte man bisher angenommen. Edinger konnte aber nachweisen, dass sich die Gräben und Furchen des Gehirns, die für seine Vergrößerung und die Zunahme von Fähigkeiten verantwortlich sind, eigenständig entwickelt hatten. Diese unabhängig voneinander verlaufenen Geschwindigkeiten des Wachstums hat sie „Prinzip der Nichtkorrelation“ (Korrelation bedeutet Wechselbeziehung) genannt.
Die erfolgreichen Forschungsmethoden von Tilly Edinger hingen eng mit ihren persönlichen Begabungen zusammen. Sie konnte sehr gut beobachten. Ihre Beobachtungen konnte sie aus verschiedenen Blickwinkeln erklären. Sie konnte auf verschiedenen Ebenen denken: Wenn sie Teile von Fossilien vor sich hatte, konnte sie Linien und Formen gedanklich weiterführen und sich den nicht mehr überlieferten Schädel oder das gesamte Gehirn räumlich vorstellen. Außerdem konnte sie Erkenntnisse von anderen Wissenschaftler*innen, die schon verstreut vorhanden waren, zusammenfassen und neu deuten und bewerten.
Wie Tilly Edinger zu ihrem Forschungsgegenstand kam
„Im Senckenberg war ich doch schon als Kind gewesen.“ Denn bereits im Vorschulalter interessierte sich Tilly für Tierkunde und ausgestorbene Lebewesen. Sie bestaunte die Saurierskelette, die ausgestopften und exotischen Tiere sowie bunte Schmetterlinge im Museum. Außerdem kam Tilly durch ihren Vater schon früh in Kontakt mit Gehirnen. Als Nervenarzt beschäftigte er sich mit ihrem Aufbau und ihrer Entwicklung. Er besaß eine große Sammlung von Wirbeltier-Gehirnen. Er verglich sie miteinander und erkannte „alte“ und „neu erworbene“ Teile. Er erforschte, wie die Ausbildung und Form des Gehirns mit den besonderen Fähigkeiten und Eigenschaften eines Tieres zusammenhängen.
Tilly war also schon als Kind an den Anblick gewöhnt, wie Gehirne in Gläsern schwammen - durch spezielle Flüssigkeiten haltbar gemacht. Nach der Schule wusste sie erst einmal nicht, was sie studieren sollte. Sie begann mit Geologie und Zoologie, später entschied sie sich für Paläontologie. Für diese Wahl war auch ein Buch entscheidend, das sie gelesen hatte. Darin beschrieb Othenio Abel seinen Arbeitsbereich, die Paläobiologie: An Fossilien untersuchte er die Lebensweise von vorzeitlichen Tieren und ihre Beziehung zur damaligen Umwelt. Tilly war fasziniert von dieser Idee. Sie wollte herausfinden, welche Rolle die Gehirne der längst ausgestorbenen Lebewesen dabei gespielt haben. Diese Spezialisierung lag nahe, weil sie schon seit ihrer Kindheit mit Gehirnen vertraut war.
Sie verband nun die Paläontologie mit dem Forschungsgebiet ihres Vaters, der Neurologie, der Lehre vom Aufbau des Nervensystems beziehungsweise Gehirns zu einer neuen Wissenschaft, der Paläo-Neurologie. Ihr ganzes Forscherinnen-Leben konnte Edinger auf frühere Erfahrungen zurückgreifen: auf die unzähligen Gehirne von Schlangen, Eidechsen oder Alligatoren, die sie in der umfangreichen Sammlung ihres Vaters betrachtet und deren Form sie sich eingeprägt hatte. Außerdem hatte sie ihre kindliche Neugier behalten, die eine Grundlage für jede Forschung ist.
Wie Tilly Edinger ihre Erkenntnisse dokumentierte
Tilly Edinger dokumentierte ihre Forschungsergebnisse in Büchern und Zeitschriften. Zuerst schrieb sie in deutscher Sprache, nachdem sie in die USA geflohen war, in Englisch. Ihre Veröffentlichungen hatten Titel wie „Über Nothosaurus“, „Die fossilen Gehirne“ oder „The Evolution of the Horse Brain“ (Die Evolution des Pferdegehirns). Außerdem machte sie große Reisen und hielt Vorträge in Amerika und Europa. Sie war Mitglied (in der Gesellschaft der Wirbeltierpaläontologen - Society of Vertrebrate Paleontologie) oder Ehrenmitglied (seit 1947 Senckenbergische Naturforschende Gesellschaft, 1962 Paläontologische Gesellschaft, 1964 Museum of Comparative Zoology) in vielen Vereinigungen, die unterschiedliche Fachtagungen organisierten. Bei all diesen Gelegenheiten stellte sie ihre Erkenntnisse vor oder tauschte ihre Erfahrungen mit Kolleg*innen aus. In Radio-Interviews und wissenschaftlichen Beiträgen erklärte sie ihre Arbeit einem breiteren Publikum.
Eine ganz besondere Dokumentation waren ihre vielen Briefe und Karten. Sie schrieb an Freund*innen und Wissenschaftler*innen auf der ganzen Welt. Hier mischte sie in bunter Weise Forschung, Privates und Eindrücke von ihrem Lebensumfeld mit großem sprachlichem Witz
Wie die Erkenntnisse von Tilly Edinger weiterentwickelt wurden und welche Bedeutung ihre Forschung heute hat
Mit ihren Untersuchungen an fossilen Pferdegehirnen hat Tilly Edinger eine grundlegend neue Erkenntnis erarbeitet, die bis heute in der Evolutionslehre gilt: Sie hat gezeigt, dass die Gehirne der Tiere sich unabhängig entwickelt haben, dass sie also nicht gleichzeitig mit ihren Körpern gewachsen sind, und dass das Aussterben oder Überleben einer Art nicht unbedingt mit der Gehirngröße zusammenhängt. Einige Jahre später kam der englische Zoologe de Beer zu ähnlichen Ergebnissen. Er sprach von der Mosaik-Evolution. Er meinte damit, dass eine Art sich durch die aufeinander folgende Veränderung verschiedener Merkmale entwickelt und sich nicht alle Merkmale auf einmal verändern. Ein Beweis dafür sind sogenannte Übergangsformen, die sich wie ein Mosaik aus verschiedenen Teilen zusammensetzen.
So war der Saurier Archaeopteryx von Gehirn, Krallen an den Vorderbeinen, Zähnen und Schwanzwirbeln noch reptil-artig, aber auch schon vogel-artig mit Federn und besonderer Form des Hinterbeins. Von dieser Mosaik-Evolution, oder, wie Edinger es nannte, von der „Nichtkorrelation“ (Wechselbeziehung), geht die paläontologische Forschung noch immer aus.
Mittlerweile gibt es hochmoderne Geräte (Rasterelektronenmikroskope, Super-Röntgen-Apparate: Synchrotronstrahler), mit denen man kleinste Teilchen erkennen kann. Deshalb werden alte Objekte neu „befragt“. So untersuchten Wissenschaftler*innen des Pariser Nationalmuseums und Naturkundemuseums New York mit speziellen Röntgenstrahlen ein 300 Millionen Jahre altes Schädel-Fossil, das schon lange im Museum gelegen hatte. Sie erhielten ein dreidimensionales, plastisches Bild und entdeckten darin das fast vollständig erhaltene Nervengewebe im Gehirn. Bisher war man davon ausgegangen, dass das weiche Innere des Gehirns sofort verwest und nicht versteinern kann.
Mit diesen Methoden wird es also möglich, frühere Erkenntnisse zu erweitern. Man kann Fähigkeiten von Lebewesen, die vor langer Zeit existierten, viel genauer beschreiben als vorher. Zu Edingers Zeit kannte man nur die äußere Form und Aufteilung der Gehirne und musste oft der eigenen wissenschaftlichen Fantasie vertrauen. In der großen Synchrotron-Strahlen-Anlage in Grenoble werden die Eigenschaften von fossilem Material mit modernen Methoden bis in kleinste Einzelheiten untersucht.
Trotz der neuen Möglichkeiten bleibt die Forschungs-Leistung von Tilly Edinger richtungweisend und aktuell. Daran erinnert auch der Tilly Edinger-Preis, der seit 2004 von der Deutschen Paläontologischen Gesellschaft an junge Wissenschaftler*innen vergeben wird. Außerdem heißt ein Platz in der Nähe des Senckenberg Museums Tilly-Edinger-Platz. Sogar ein Krater auf dem Mars trägt seit 1994 ihren Namen.
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